In meine Nase zieht der Duft von
Kindheit. Zimtschneckenduft und für die Tomatensoße angebratene Zwiebeln mit
Knoblauch. Frühlingsluft und schneidend kalter Winterhimmel, der sich auf die
Erde gesenkt hat und in die Backen beißt. Ich muss Niesen und bis zur Lippe
zieht sich der gelbe Rotze Faden. Anouk muss ins Bett gehen und lacht. Anouk
wacht auf und lacht.
Ich bin erwachsen geworden und
morgens riecht es nach Kaffee in der Wohnung.
Wenn die Rasenflächen in den Parks
in unserem Viertel wieder grün sind, gehen wir vor die Tür und beobachten
Insekten. Ich weiß nicht, wie oft uns das Beobachten von winzig kleinen Tieren
schon aus einem Streit oder einer Traurigkeit geholfen hat.
Gib mir den Ball, sagt Anouk zu
Tamira. Er gehört mir.
Nein, sagt Tamira. Jetzt will ich
ihn haben.
Nein, sagt Anouk. Gib ihn her. Es
ist meiner.
Und Tamira läuft mit dem Ball los
und versteckt sich hinter einem Baum in einem Gebüsch. Der schönste Streit ist
in vollem Gange.
Anouk schreit, rennt los, fällt
hin, erreicht Tamira und zieht ihr, weil die sich mit dem Ball umgedreht hat,
an den Haaren. Tamira lässt den Ball fallen und haut Anouk in den Bauch.
Tamira weint. Anouk heult. Wir
stehen von unserer Bank auf und trösten die Kinder und schimpfen mit ihnen,
dass sie sich nicht streiten sollen. Dass der Ball da ist, damit sie beide mit
ihm spielen können. Und das er weg ist, wenn sie sich darüber streiten.
Kuckt mal, sage ich. Hier ist ein
ganz kleines, grünes Tier. So eins von der Insektenelfensorte, fast durchsichtig.
Da hören die Kinder auf zu jammern
und setzen sich in das Gras um das Tierchen anzusehen.
An einem Wochenende fahren wir auf
ein wildes Gelände. Ein ehemaliger Militärflughafen, auf dem es viel zu sehen
gibt und die Wiese hoch gewachsen ist. Wir schlagen unsere Zelte auf und freuen
uns an der Stille am Tag und den Lagerfeuern in der Nacht. Ohrenschützer
brauchen wir nicht. Es ist besser die Wespe heransummen zu hören, als von ihr
gestochen zu werden.
Es ist Mai und wir frieren Nachts
in unseren Zelten, kuscheln uns ganz eng aneinander und erzählen uns Geschichten,
bis wir zwei Schaffelle ausgeliehen bekommen, die uns, vor der aus dem Boden
hochziehenden Kälte, schützen.
Morgens stapfen wir in
Gummistiefeln durch die taufeuchte Wiese zum Waschen.
Mittags kochen wir unsere Spaghetti
unter freiem Himmel und abends, wenn die Kinder in den Zelten liegen, trotzen
wir den Mücken und trinken einen Zahnputzbecher voll mit Wein.
Am Samstag wird ein Geburtstagsfest
gefeiert und als es am Sonntagmittag noch nicht zu Ende ist, gehen wir hin und
bekucken uns, aus angemessener Entfernung, die feiernden Leute. Wir liegen
unter einem großen Kastanienbaum und finden einen Maikäfer. Die Kinder bauen
ihm eine Maikäferstadt, dann gehen sie und tanzen mit einem Mann mit langen Haaren,
der ziemlich betrunken wirkt, aber freundlich ist. Wir hören die Musik und
wippen mit den Füßen. Die Sonne scheint uns auf die Bäuche und wir bekommen ein
Stück Wassermelone geschenkt.
Der Sommer schmeckt nach
Wassermelone, Wassereis und Weintrauben.
Der Winter riecht nach Schnee.
Im Herbst kochen wir Apfelmus mit
Vanillezucker.
Und im Frühling verbannen wir die
dicken Jacken in den Keller. Reißen die Balkontür auf und freuen uns am
Vogelgezwischer. Der Winterhimmel war mit Möwen besetzt. Und im Herbsthimmel
sahen wir die Zugvögel schnatternd und in Formation in den Süden ziehen.
Einmal hat sich ein Regenbogen über
den dunklen Gewitterhimmel von ganz rechts nach ganz links an uns
vorbeigespannt. Da haben wir gestaunt.
An Sylvester darf man lange aufbleiben
und wenn man sich zu Weihnachten ein lebendiges Einhorn wünscht, bekommt man
Wellensittiche vom Christkind, das eng mit dem Weihnachtsmann zusammenarbeitet.
Anouk ist so stark, dass sie Bäume
ausreißen kann, auch wenn diese nur ein Grashalm sind.
Wie schön muss es sein, wenn man
zwergenklein ist und der gemähte Rasen noch ein Wald und die Ameisen prima
Reittiere und die Schätze echt sind. Eine Muschel kann ein Boot oder Bett sein.
Und das dunkelgrüne weiche Moos ist ein Kissen. Wir springen von einer Wurzel zur anderen und
überqueren das Frühlingspfützenmeer auf einem dünnen Ast.
In unserer Wohnung wächst ein
grüner Dschungel und an guten Tagen tauschen wir die winzigen Schätze, die in den
Streichholzschachteln wohnen, miteinander. Morgens um acht wirft die aufgehende
Wintersonne Lichtengel an die Wände. Der Wintermorgen ist eine große blaue
Tasse mit weißen Wölkchen und in der Tasse dampft ein Tee mit Milch und Zucker.
Wenn es dunkel wird, füllt Mama heiße Milch mit Honig hinein.
Am allerliebsten isst Anouk
Griesbrei zum Frühstück. Und der Weg zum Kindergarten bleibt fünf Tage in der
Woche derselbe.
Es ist nicht immer leicht ein
starkes Kind mit einem großen Kopf zu sein. Elisabeth die Zicke versucht jeden
Tag, alle Mädchen auf ihre Seite zu ziehen. Sie ist eine hochmütige Prinzessin,
die nicht weiß, dass nur die Gänsemagd für den Königssohn bestimmt ist. Dass
nur der, der auf dem Fußboden geschlafen hat, das Königreich seines Lebens
weise regieren wird. Und Anouk soll den Hund spielen immer wieder.
Als im Kindergarten Karneval
gefeiert wird, geht Anouk als Hase.
Ihre Freundin Tamira ist eine
Wellenprinzessin mit einem mit Muscheln und Perlen besetzten Kleid. Sie
erfinden ein Königreich, in dem Tamira regiert und der Hase zuhause ist. Es
gibt nichts Besseres als ein Zuhause zu haben.
Wenn Anouk müde ist, fängt sie an
mich vors Schienbein zu treten. Ich verbiete ihr die Süßigkeiten für den
nächsten Tag. Sie beginnt zu weinen. Ich halte das aus. Es ist mein Job. Ich
muss ihr beibringen, dass man nicht böse werden darf, wenn einem was fehlt. Und
wenn sie das Schnoopzeug mit ihrem Freund Lino teilt, dann bekommt sie es
doppelt von mir zurück.
So lernt sie, dass Teilen besser
ist als Hamstern.
Durch eine Miniatursanduhr rinnt
der Sand. Die Zeit geht so schnell vorbei.
Ich wünsche Anouk eine schöne,
spannende Pubertät, in der man den ersten Kaffee trinkt und stolz darauf ist,
dass man schon so erwachsen. Einen Lebensabschnitt, in dem man bis zwölf in den
Federn liegt, damit sich die Gehirnwindungen neu vernetzen können. Und dann
trotzdem auch mal den Abwasch macht, während man seinen krausen Gedanken
nachhängt.
Einen weichen Übergang in das Leben
eines bald erwachsenen Menschen. Mama ist manchmal doof, aber eigentlich ist
sie ein guter Kerl. Und weil jeder Mensch Fehler macht, muss man ihr nicht mehr
vors Schienbein treten.
Da ist soviel, was sie erlaubt. Es
ist so schön mit Tamira am späten Nachmittag, der Tag hat erst vor ein paar
Stunden begonnen, in einem Cafe zu sitzen. Yogitee aus großen Tassen zu trinken
und über die Liebe zu philosophieren.
Es ist toll einen großen, bunten
Freundeskreis zu haben. Und am Wochenende auf einer Skaparty zu tanzen. Sollen
die vermeintlich Großen doch machen, was sie wollen. Nur weil Ernst- August in
den Brunnen springt, springe ich, Anouk Away nicht hinterher. Ich bin ein
starkes Mädchen und alles hat seine Zeit.
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